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Das doppelte Wochenende

1999

An einem Sessel sitze ich angewachsen und sehe die kleinen Antennen, die hinten von den Tragflächen herunterschauen, auf das braune Gras zwischen Rollbahn und Stadt, eine komische Stadt, mit sechs-étagigen, grüngrauen Blocks, die niemand haben will. Dann wieder Platz und das nächste sechsstöckige Ding, aber in rostrot und mit mittelgrauen Balkon-bändern gestreift.
Lieblos ermüdet das Ganze die noch nicht mal angefangene Stadt schon wieder, kann man einfach so alles für immer verlassen. Gäbe es da nicht ein paar Menschen. Außerdem steht da das Telefon, und man muß Geld beantragen, immer mal wieder ein Foto abschicken und sich mit den drei-einhalb Leuten treffen, die man nicht so schnell irgendwo findet. Da gibt es Gefühle, und die haben Wurzeln, man weint, wenn man sich wiedersieht. Stattdessen aber steht man beieinander und atmet die Luft, die der andere ausdünstet, ein, weil man nicht weiß, worüber man sprechen soll.

Dann kommt die Küste. Das ist ein sandfarbiger Streifen an dessen Flanke eine Litze kleiner weißer Locken angenäht ist. Da hört das Wohnzimmer auf, und die Borte trennt es von der Silizium-grauen Fläche, die bei Son-neneinstrahlung den gleichen dumpfen, anthrazitgrauen Glanz zeigt, wie ein frisch gesägter Silizium-Wafer. Die Engländer haben wieder ihre Vor-hänge zugezogen.
Inseln und Strände haben unscharfe Kanten. Denn das Meer spült zuerst dünn und durchsichtig in den Sand und verdunkelt sich nach außen hin exponentiell. Ein paar Fähren ziehen unbeirrbar einen grünlich weißen Schweif hinter sich her.


Die Raumperspektive des Flugzeugblicks hat etwas mit der Zeitperspekti-ve des Zeitraffers zu tun, denn vielfach stellt sich heraus, daß es Strukturen gibt, die von unten nicht wahrnehmbar sind. Solche aber, die unten prioritär sind, existieren von oben nicht mehr, bzw. sind dem Auge gegenüber ver-schliffen.

In Heathrow gießt sich der Inhalt des Raumschiffs in das Terminal und mischt sich sofort mit dem dort Vorhandenen. Die amorphe Schlange schiebt sich in Richtung Flight Connections.
Derweil wird die Luft dünner, keine Uniformierte die mit freundlich lächeln-dem Schnellhefter auf mich zugeht hello Mrs Hofter, I´m glad I found you.
Ein paar Leute bleiben beisammen, denn die hatten schon mit dem pas-senden Reiseführer auf ihrem 34 C gehockt. Der Rest mischt sich unter, und aus dem gemischten Ganzen ziehen sich einzelne Personen als Spaghetti aus dem Teller, reihen sich in die Boarding-Schlange ein, ver-wenden möglichst viel Zeit für alles und blicken ernst auf den Schultergurt ihres Vorstehers. Sie wundern sich, wie der Konsumismus und die abso-lute Nutzlosigkeit, in der sie sich momentan befinden, sie in eine gedehnte Zeit schiebt. Die Organisation gebärdet sich als durchorganisierter, zu al-lem befugter Staat. Eine alte Dame, Linda Swan, einen mit orange und gelben Blumen geschmückten Stohhut auf dem Kopf wird in einem weithin piependen Elektromobil über eine in den Raum eingebaute Rollstaße vor-beichauffiert. Sie schaut mit großer Nase nach vorn, während das Gelblicht sich dreht.
My home is, where my heart is. Das ist nun aber prioritär nicht mehr in der Gegenwart, also hat sich alles geändert, es wird klar, warum alle auf Fanny abfahren, wie ich durch die kleine dressierte Kanadierin hindurch zu Fanny schaue, umarmen auch sie mit den Augen das holographische Abbild des eigenen Kindes. Bis jetzt gibt es kein Abenteuer, nur den Verlust von Zeit und Raum, und der Reisende überredet sein Unter-Ich einfach nur ruhig dazusitzen, sich an den leicht verständlichen Zeichen zu orientieren, nach dem Gepäck zu sehen und in einer halben Stunde mitsamt der neuen Herde, die sich in den letzten Stunden unter dem entsprechenden Schild zusammengefunden hat, durch die richtige Tür zu gehen.

Dann stehen die Riesengurken von zwei Seiten an, um auf die Rollbahn vorgelassen zu werden, fädeln sich ein, wie im Kindergarten, wenn die Kindergärtnerin nach dem Rechten sieht.
Schwerelos die beiden kleinen Wolkenbündel, wieder sehe ich den Fir-menparkplatz mit den ordentlich aufgereihten türkisfarbenen LKW. Dann einen Golfplatz mit kleeblattförmigen Sandfeldern, da möchte man sich hineinlegen, zumal hier jemand Mundgeruch hat. Englische Siedlungen scheinen für die Luftbetrachtung angelegt zu sein, denn sie erfreuen mit fröhlichen Spiralen, Pirouetten aus grauen Straßenschnüren mit ange-nähten Reißverschlußhäuschen.
Da das räumliche Sehen sich in der Entfernung zum Boden praktisch aus-schaltet, fungieren Verfärbungen an den Rändern der Felder als raumbil-dende Elemente und die Landschaft liegt als großes, von den Straßengrä-ben unterteiltes aufblasbares, inflatable Kissen unter uns wie eine harmo-nische Buckelpiste.

Alles beginnt mit einem Feld kleiner Wolken, hunderttausend kleiner Wol-ken, die zielstrebig unter dem Betrachter durchwandern. Darüber eine Ebene weniger und schwächerer Wölkchen, die zwar unentschieden tau-meln, die anderen aber trotzdem überholen.
Darunter befindet sich ein Netzwerk von Verkehrswegen und Flurbegren-zungen. Angelagerten und abgelagerten Häuschen und strukturierten Arrangements von Häuschen. Ein Verbund kleinerer und größerer Zen-tren. So als wäre alles schön. Eigentümlich fehlt dem ganzen die Farbe, wobei nur die roten Nachwendedächer eine eingefärbte Ausnahme ma-chen. Zum Horizont und zum Meer hin verdichtet sich das Flockenfeld, alles schweigt und drückt auf die Ohren, klappt kleine, wohl konstruierte Flächen auf die Kniee der Reisenden. Sie werden nicht in Ruhe gelassen über den Wolken. Es riecht nach zu kühl gelagertem Knoblauch, und ap-petitlich wird alles in Fannyformat in die Reisenden eingeschoben. Je mehr Abfall ein Reisender produzieren darf, desto höher sein Selbstwertgefühl.
Auf der Leitungsebene schauen sich alle Bunuels Würgeengel an und belegen Kurse in Hospitalisation Handling. Stattdessen tanzen sie immer die Sicherheitregeln ab und lächeln über den Plastikbecher mit Eis hinweg in die Weite der Weltkugel. Rolls Royce baut die Düsen, die das Hamster-rad der Welt unter der vierhundertsieben-sitzigen Fluggurke treten. Die Flugbegleiter schieben ihre hochformatigen Containerchen mit den ausge-stanzten Kuchenstückchen auf den eingeschobenen formgepreßten klei-nen Tabletts auch auf dem Hamsterrad entlang und lächeln hinterlistig in den Himmel der Dienstleistungsgesellschaft. Kurz über den Köpfen, da endet von einer Sekunde zu nächsten eine verdichtete, homogene Wol-kendecke und erklärt damit gleich die ganze Welt mit allen ihren Mantel-schichten für beendet.
Artig schieben wir alles in uns hinein und lehnen nie ein Angebot ab. Rei-sende, die die Salätchen und Hähnchenteile nicht nur stehenlassen, son-dern von vorneherein verzichten, sind verdächtig, wer könnte eine Motiva-tion haben auszuscheren, wenn es etwas umsonst gibt? Tut auch keiner, vielmehr packt man noch brav die Erfrischungstüchlein und das Schokola-denkonfekt in die Tasche, um es den Hinterbliebenen mitzubringen oder für dringende Fälle aufzubewahren. Aber Fanny beginnt bereits, nicht da zu sein, Fanny schon ist dieser süüüße Schmerz in dir in mir. Die Arme und die Beine bereit, um den Radiohit zu dirigieren. Bis du sprechen kannst, könntest Du Hund sein, dann wäre alles ganz praktisch, wer das gekochte Ei für dich bereit hält, dem kannst Du vertrauen.


Erst sieht man eine attraktive blonde Frau Volleyball spielen, dann steht sie vor einer Wand und titscht einen Ball immer wieder dagegen, rasend schnell muß der Ball die kurzen 15 Zentimeter zwischen ihrer Hand und der Wand hin und her prallen um nicht runterzufallen. Beim Zuschauen bekommt man bereits einen Unterarmkrampf, aber dann spricht sie wieder vernünftig in das schweigende Satelitenfernsehen hinein.

Sich so unauffällig wie möglich verhalten, d.h. keine Flecken auf der Klei-dung, Bürste nicht nur mitnehmen, sondern auch benutzen.
K. sagte, als er so munter aus seinem fernen Büro über China lossprudel-te, ich solle mich wie Leibniz' Urenkelin umschauen.

Meine Nachbarin hatte ich schon beim Anstehen beobachtet, sie hat voll-ständig ausgezupfte und neugemalte Augenbrauen, ansonsten ein ar-chaisches Gesicht mit ausgeprägter Profillinie, die Stirn und Nase nicht durch die übliche Senke trennt. Das Kinn ist fleischig. Unter einem schulterfreien Oberteil, das mit Spitzen abschließt, trägt sie einen überflüs-sigen mit Spitzen durchbrochenen BH, dessen Struktur der dünne Stoff des Oberteils abzubilden vermag. Das ist ein seltsamer Kontrast zu ihrem bodenständigen Körperbau. Ich hatte mich über die Kurven gewundert, mit denen ein Goldkettchen die Hügel der Haut über den Schlüsselbeinen nachzeichnet. Ich hatte den Eindruck gehabt, sie schaue sich nicht um, aber sie hatte getan, was die meisten tun, rauskriegen wer, welchen Lan-des Paß in der Hand hält, und ob die eigene Vermutung zutrifft. Sie half mir später bei der gesamten Ankunft, mit Bus und Taxi, sodaß ich wie ein Vol-lidiot in das Hotel chauffiert wurde. Sie hieß Frédérique (Fledelie).
Der Taxifahrer rief im Hotel an, um sich den Weg erklären zu lassen.
Sie rufen ständig irgendwo an, um Adressen, Telefonnummern und so was zu klären.


Es ist schade, daß man in den russischen Weiten, oder zumindest in Ulan Batur keine Rast machen kann. Fledelie hatte bis zum Essen Mundge-ruch, es scheint eine Flugzeugkrankheit zu sein, von der aber vielleicht auch ihr Nachbar, der Bauingenieur aus Australien mit den flexiblen Erdöl-leitungen und der speziellen Verpflegung betroffen war. Jeglicher Geruch verschwindet sogleich in der Überdruckanlage, dort verschwindet der Ekel und alles. Die Anlage kompensiert die Intimität der gemeinsam und unge-schützt verbrachten Nacht. Fledelie ist ein kleiner entschlossener Kämpfer im dritten Semester Sinologie in Peking. Der Mond beleuchtet die Tragflä-chen und die Schneefelder, auch das ewige Eis. Der Ingenieur ist mit Kopfhörer und seiner dicken Lupenbrille eingeschlafen. Er konstruiert und hält Vorträge über gelenkige Pipelines, die 1000 Meter unter der Wasser-oberfläche an Bojen aufgehängt schwimmen. Die Teilstücke sind mit ver-größerten Schwanenhalsgelenken miteinander verbunden. Er ist ein of-fenherziger Mann mit einem Fleck auf seinem unregelmäßig gestreiften Polohemd. Nach der Besichtigung der großen Mauer wird er einen Vortrag über seine Bohrinselpipelines in Harbin halten, der Stadt, in der es im Winter immer die Eisskulpturenfestivals gibt, türkis und purpur erleuchtete Drachen, aber von Haikus keine Spur. Überhaupt keine Spur. Crossover-salat & Prüfung nicht bestanden, auch wenn Fanny bei dem Telefonat nicht dauernd beinahe die Treppe herunter gekippt wäre. Im Eingang der Post in der Goethestraße neben den ratschenden Kontoauszugsdruckern. Das statische Hauptproblem der Kleinkinder scheint weniger ihre Unge-schicklichkeit als die ungeschickte Proportionierung ihrer Körperchen zu sein. Die tastenden Hände und die Beinchen beginnt der Wille langsam zu dirigieren und nach eineinhalb Jahren ist der militärische Apparat im we-sentlichen ausgebildet. Bis dahin kann der riesigschwere Melonenkopf bei jeder Gelegenheit über die kleinen Hände hinweg in irgendwelche von den Müttern imaginierte Abgründe kippen. Dann läßt man den Hörer mit sei-nem unappetitlichen Pink einfach an dem Schwanenhalskabel hängen und rettet das kleine Wesen. Die Sache mit der Poesie bleibt dann im Kontoauszugsdrucker stecken. Die Sache mit der Pfütze verstand ich, hielt es jedoch für unwahrscheinlich, daß es regnen würde. (Geschüttet hat es). In Tokyo treffen sich zum Sonnenuntergang die Leute vor der angeblich größten Werbewand der Welt und diskutieren politics. Die Berichterstatter vergessen auch nie, noch ein Bild von den Kartonbehausungen unter der Wand zu zeigen. Da geht man die Haikus in den Golfklubs auf den Dä-chern suchen.

Eine chaotische von der Bank of China organisierte Prozedur vergibt Nummern gegen Geldscheine, Paß und ausgefüllte Formulare. Eine An-gestellte im Hintergrund zählt Scheine und legt sie auf die Formulare, ver-staut die ausländischen Noten und Schecks in einer Schublade, dann liest sie Zeitung. Die erste Angestellte nimmt die Nummer wieder entgegen, und Fledelie hält mich an nachzuzählen. Der chinesische Staat hat mich mit dreihundert Yuan (70 Mark) zu viel begrüßt, und ich hätte es beinahe nicht einmal bemerkt.

In einer unbeleuchteten Straße gehe ich in ein neonhelles Restaurant und male einen Fisch, sofort schreit der Kellner begeistert das passende Wort und ist entsprechend enttäuscht, als ich ihm den Fisch wieder durchstrei-che. Ich hoffe wir einigen uns auf Reis und Tee. Auf den kleinen Straßen ist alles wie in einem Historienfilm rot mit Mond beflaggt. Sie haben auch die Außenmauern der Hutongs frisch grau gekälkt, der ganze alte Teil der Stadt im gleichen grau. Die größeren Straßen sind hübsch mit Lampions geschmückt. In manchen Straßen sind die Bäume, die die Straße fast überdachen, mit leuchtenden Plastikschläuchen umwickelt, die manchmal wilde dreidimensionale Muster in die Luft malen. Auch an dieser unbeleb-ten Straßenkreuzung trägt der Kellner eine dunkelrote Uniform. Ich bin sowieso der schlechtangezogenste Chinese. Zu Anfang gibts kalte Erbsen in haarigen Schoten, die neutral bis gut schmecken.

Ich schaue immer wieder auf die Uhr und merke das erst als ich es schon, ich weiß nicht wie oft, gemacht habe, als ob ich zu irgendeiner Zeit F. tref-fen dürfte. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, sie mitzunehmen, das Kind. Ständig schaue ich nach irgenwelchen Bilderchen oder kleinen Ge-genständen für sie, aber die Regale sind fast alle für die Schönheiten ge-räumt, die auch den Anfang des nächsten Jahrtausends noch glänzen könnten.


Auf manchen Hauptstraßen hängen riesengroße angestrahlte geplottete Antizipationen des Jahrestages und zeigen Tienanmen im Luftballonmeer.


Peking ist auf jeden Fall platt, einstöckige Hutongs auf einer tischflachen Ebene, sind von rechtwinkligen Geschäftsstraßen durchschnitten. Manchmal wachsen die Geschäfte noch einbißchen in die Hutongs hinein, dann kann man zwischen den Fertigsuppen, Rasierklingen und Colabüch-sen hindurch in kleine Wohnzimmer schauen und Stimmen hören. Oder Körper in Sesseln sehen, die auf die Vorbereitungen der Feierlichkeiten im Fernsehen schauen und auf die rotierenden Grafiken, die beliebt sind als Jingle zwischen den Programmteilen, die selbst im wesentlichen aus sol-chen grafisch-musikalischen Kurzdarbietungen, wie Werbung, Nachrich-ten, Vorankündigungen und rasendschnell aufgelisteten Wetterberichten bestehen. In den Hutongs gibt es öffentliche Latrinen mit einem Raum mit Löchern im Boden für Frauen und einem spiegelverkehrten Raum mit Löchern im Boden für die Männer. Ich habe die ältere Frau nicht ange-schaut, sie hat auch nichts gesagt, als sie hereinkam. Es gibt keine Zwi-schenwände und es stinkt so, daß einem die Pisse vor Schreck im Harn-weg versiegt.

Die Dämmerung setzte unter den Bäumen so kräftig und dunstig ein, daß ich den Eindruck hatte, die Brillengläser schon lange nicht geputzt zu ha-ben. Vielleicht war das auf die Uhr schauen auch die Müdigkeit oder Feig-heit schon wieder niemanden anrufen zu wollen. Der Regen sagt sei ein-sam und gräme dich, die Sonne würde sagen sei einsam und schaue sie dir alle ganz genau an. Dann fällt mir wieder ein, daß die Brüste dabei sind zu platzen. Der Körper pumpt und pumpt und ist genauso wenig verstän-dig wie Fanny. Aber vielleicht sie hat alles verstanden.


Also tapp, tapp, tapp, eins nach dem anderen.

Ganz China ist mit GFK (GlasFaserverstärkter Kunststoff) - Sitzschalen ausgestattet, die in den Farben variieren. Sie waren mir noch von der letz-ten Reise in Erinnerung, als in Shenzhen pro Zug ein Wartesaal mit meh-reren hundert Plätzen benutzt werden mußte, der durch eine bestimmte Farbe seiner auf Stangen montierten Sitzschalen kenntlich gemacht wur-de.
Als wir aus dem kleinen Foyer mit den Schildern aus farbigen Glasplatten heraustraten, begann es zu regnen. Unter einem schiefen Werbesonnen-schirm wurden die Billietten für einen Bus zum Hotel der Freundschaft ver-kauft. Das kann man nicht erkennen, und man erkennt auch nicht, wohin der Bus fährt. Fledelie wurde ganz rührend, denn sie wartete wegen mei-ner Geldwechselei nach 12 Stunden Rauchverbot noch länger auf die erste Zigarette. Sie konnte sich manierlich mit denen auf Chinesisch unter-halten und ihnen unser Gepäck in den Weg stellen. Die Polster waren mit appetitlichen blau-weißen Baumwollbezügen abgedeckt. Der Mann neben mir hing in dem ausgebeulten Sessel und grunzte immer wieder.
Wir bogen auf einen Expressway mit neu verzinkten Leitplanken und Gingko-Pappeln mit frisch gewaschenen Füßen ein. Dann kreuzt eine rie-sig breite Pagode in allen Farben die Fahrbahn und dient als Mautstelle der Besinnung. So bunt so schön ist sie, wie man bei genauerem Hinse-hen feststellen kann, dennoch aus Holz. In der Stadt verliert sich der Ex-pressway auf mehreren vielspurigen Ringstraßen die jeweils von ver-stopften Begleitstraßen gesäumt sind, auf denen sich Fahrräder, Park-platzsuchende und Taxifahrer etc. aufhalten. Auch auf den Fahrrädern tragen die Menschen gut sitzende Sakkos und drüber noch ein sozialisti-sches Regencape. In den entsprechenden Innenräumen kann man dann sehen, wie alles bei nächster Gelegenheit wieder in Form gebürstet wird. Um den Ring herum regnet und pfützt es sich recht ungemütlich. Die Busi-nesses in den unteren Etagen der Blocks beladen die Zwei- und die Drei-räder und bringen die Taxis zum Hupen, gehupt wird sowieso immer ir-gendwie, aber niemand erwartet irgendeine Reaktion. Man tut es, um das ganze zu beleben.

Am Sonntag hat das alles auch wegen der feineren Kleidung einen dün-nen Film von Ausnahme. Eigentlich ist heute frei, aber das erledige ich doch noch eben. Wegen des Sonntags gibt es auch erwachsene Paare, die verliebt zum abendlichen Spaziergang Hand in Hand die Straßen ent-langschlendern. Ältere Frauen und ältere Männer drehen und dehnen beim Gehen ihre Rippen und Schultern.
In den kleinen Läden der inneren Stadt essen sie am Sonntag ganze Me-nues auf den Theken. Sobald das Geschäft größer als ein Kiosk ist, halten sich zwei bis vier oder noch mehr Leute dort auf. Es gibt kaum einen ande-ren Platz, wo sie hinkönnen. Diese Gleichzeitigkeit von Privatsphäre und Öffentlichkeit ist beliebt.
Am späteren Abend hängen drei oder vier jüngere Frauen bei geöffneter Tür in ihren Friseurstühlen und schauen fern. Zwei von ihnen sind dabei eingeschlafen. In der Nacht ist der Friseurladen mit einem dichten, groß-gemusterten Vorhang verhangen, der nahelegt, daß innen das Nachtlager aufgeschlagen worden ist.

Doppelt ist das Wochenende, wenn Samstag und Sonntag arbeitsfrei sind.

Der Restaurantbesitzer bringt noch spät drei Ehepaare mit einem einzel-nen Kind zum Essen. Er räumt den Tisch der letzten größeren Kundschaft eben selbst ab, damit der Zeit für die Gäste hat. Der letzte Fitzel Wochen-ende steht als kleine Einkaufstüte neben einer der Frauen und als PET-Flasche mit einem Rest gekühlter Cola auf dem Tisch.
Der Zuschauer ohne Sprachkenntnisse vermutet zarte Melancholie, die die Anwesenden im Angesicht des nahenden Wochenwerks ergreift. Überall auf der Welt ist der Sonntagabend bittersüß. Und bittersüß sind auch die Rentner von diesem Druck ausgeschlossen und in ihren eigenen Druck des Alterns eingeschlossen.

Mein preiswertes Zimmer in einem eingeschossigen, nachgebauten Hutong-Labyrinth liegt am modrigen Ende eines Ganges zu einem winzigen Hofquadrat hinaus. Die Maschinenschnitzereien und der Prägeteppichbo-den haben zwanzig historische Jahre Zeit gehabt, sich in ihre Umgebung rückzuverwandeln. Auch den Sommer über wurde die Flora mittels nach-träglich eingebauter Klimaanlage in Balance gehalten. Aber es gibt einen raumfüllenden Fernseher und im Bad sämtliche Einmalartikel, die das Rei-seherz so gerne sammelt. Der Eingang leuchtet des Nachts als dreidi-mensionales Leuchtschlauchmodell pagodig und rot in den purpur und Natriumdampf-gelb angestrahlten Himmel. In den Hutongs tappt man an-sonsten fast blind von Latrine zu Latrine. Geparkte Autos. Kaum Fahnen. Im Gegensatz dazu leuchten in den ärmlichen Hutongs die Flaggen kon-fuzianisch-rot an jedem Mauervorsprung. Dem Fremden kommt das wie ein Apell vor, in diesem Karée nicht wie nebenan zu verfahren, wo die Ju-gendlichen sich in einem Verschlag auf den planierten Trümmern treffen. Hier stimmt die Gesinnung. Das Long Fu Kaufhaus ist auf so einem gero-deten Armutshutong errichtet und beleuchtet seine pagodige Dachetage als Fanal weithin sichtbar. Das Einkaufszentrum gegenüber ist mit vielen hundert Lampionsgeschmückt und genauso leer wie zuvor.

Im Zimmer sind die Pappschachteln weich und aus allen rechten Winkeln herausgewellt, denn in der großen Wolke kann nichts steif bleiben. Sie beginnt reglos am Ende der Wüste Gobi und wird irgendwo unbekannt über dem Ozean abglöst. Als ich an dem schnellen Flugzeugmorgen auf Gobi herabschaute, bekam ich einen Schreck, zunächst mal nur wenige Farbnuancen im endlosen Lehmbraun und vereinzelte Spuren kurz ver-siegter Wasserläufe. Dann hielt sich das Flugzeug an einer Bahnlinie, die verlassene Heerlager miteinander verband. Kein Pflänzchen, keine Farbe, nur Riegel geordneter Gebäude, verwehte Schienen und einmal ein klei-ner Tagebau, dessen Aushub als Negativ neben der dazugehörigen Gru-be ebenso wie diese terrassiert aufgehäuft war. Die beiden entsprachen einander so genau, daß ich zunächst über die räumlichen Verhältnisse verwirrt war. Ab und an warfen zarte Wölkchen kleine Schatten in die Un-endlichkeit. Als die menschlichen Nester wieder begannen, sich im rechten Winkel großflächig aneinander anzuschließen, deckte ein mittelgrauer dicker Wollteppich alles ab.


Kleinkinder sieht man immer mit nackten Hintern rumlaufen oder auf den Armen Erwachsenen sitzen. Sie tragen Hosen, die im Schritt nur aus Luft bestehen. Wenn sie mal müssen, setzen sie sich, wo sie gerade sind, schnell hin, und die Mütter putzen ein bißchen nach. Sie werden lange gestillt. Es gibt keine Schwangeren.


Von dem großen verstaubten Rikschaparkplatz vor dem Westbahnhof finde ich kein Bild. Ich finde von vielen Sachen kein Bild. Man kann praktisch nie irgendwo herunterkucken, das reut den Zeitraffer. Also kehre ich an mein Stadtringkreuz zurück. Eine Traube bildet sich um die Kamera. Manchmal ist es der vertraute freundlich taxierende Hobby-Ingenieursblick, manchmal ist es einfache Neugierde vor den offenstehenden Läden. Den ganzen Tag sitzen sie in ihrem Textilladen. Den ganzen Tag wirbelt das Leben vorbei, aber kaum etwas schert aus dieser Betriebsamkeit aus. Manche lächelten so nett, daß ich gleich mitgegangen wäre. Das wußten sie aber nicht, oder wollten es nicht, oder sie taten es nicht, wie ich es auch nicht tat. Bestellte noch mal zwei Soyamilch, in dem chinesischen fastfood, bekam aber diesmal Schüsseln mit heißer süßer Flüssigkeit.


Nachts um halb eins klingelt das Telefon und die gestrenge Stimme der Rezeption sagt bicycle und als ich auflegen will Police, also ziehe ich mich an. Jemand hat mich beim Filmen beobachtet.
Aber es ist die Rezeptionistin, die sich wegen des nicht zurückgegebenen Fahrradschlüssels aufspielt, denn ich habe das Rad Abend für Abend ab-zugeben, die Tagesmiete zu bezahlen und morgens neu auszuleihen. Man kann ahnen, wie es ist, wenn dieser hübsche Rezeptionsdrache echte Macht über einen hätte.
Es ist schwierig, sich das Ausmaß vorzustellen. Aber auch die pfeilschnel-len und pfeilspitzen Anweisungen verschiedener Uniformierter an den minderwertigen Fahrradfahrer vermitteln etwas. In der Fußgängerzone dürfen keine Fahrräder mitgeführt werden, und die Polizei bewacht den Eingang zu dem irreal buntem Porzelanlicht. Simcity wird nur durch die unvermeidlich angenehmen Schriftzeichen aufgelockert. Man könnte den flanierenden, Erinnungsbilder schießenden Grüppchen auch Eintrittsgelder abverlangen. Lautsprecher wehen popularisierte westliche Klassik durch die schnipselfreie Zone. Die beidseitig flankierenden Leuchtwände virtuali-sieren in dem eigenartigen Raumgefühl, das sie mit ihrem Licht erzeugen, sogar die sozialistischen Busse.

Berlin:Ein Inder oder Pakistani in gestreiftem Bankhemd liest in einem Buch Tales from the Berlin wall.

Am zweiten Morgen fotografiert mich ein Mann mittleren Alters in mittel-grauer praktischer Kleidung von der gegenüberliegenden Straßenseite mit einem modernen, nicht allzu teuren Teleobjektiv. Dann schaut er beiläufig weg und beiläufig wieder hin. In ebenfalls gebührlichem den falschen Filter vorgeschraubt und gehe davon aus, daß mir im wesentlichen der Appetit verdorben werden soll, wer immer ich auch bin.
Also lande ich irritiert und frustriert in einem Park und könnte das Baby auf seiner Oma Arme auffressen vor Sehnsucht. Es hat hauchdünnes abste-hendes Haar, eine großgepunktete Jacke und die Hose mit der Öffnung zwischen den Beinen. Die Oma weiß nichts von mir. So durfte ich dem Kleinen die Hände berühren und die Haarspitzen. Es hatte Ähnlichkeit mit F, weil ich nicht wußte, was ich hier sollte, mich in einem solchen Land von einem solch minimalen Vorfall beeindrucken zu lassen.
Während ich weiter mit meinem Rucksack unerledigter Telefonnummern herumlaufe zieht es sich wieder zu, die Luft wird schwer und man schwitzt, in dem Moment, da man sich zu bewegen beginnt. Im Park geht ein alter Mann lange rückwärts in der nach feuchter Erde riechenden Athmosphäre hin und her.

Nach 12 Stunden Schlaf nahm ich noch den Rest Sonne wahr, und sah ihn abnebeln. Alles dampft und kocht, bis nachmittags die ganze Athmo-sphäre zukondensiert ist. Abend für Abend wehen die strammen Fahnen auf der großen Halle das Volkes das ganze Kondenswasser mit -wir wis-sen schon- tonnenweise Ruß und kubikkilometerweise Kohlendioxid aus der Stadt hinaus.
Ich erzählte jemandem, daß ich noch ein Jetlack habe und bekam zur trö-stenden Antwort, daß sein Opa das schon seit drei Jahren hat. Noch liege ich, und in einer leisen Ahnung, daß ein Körpergefühl zurückkehrt, wache ich auf, als sie Zimmerfrau hereinzukommen versucht. Schon in diesem Aufwachen ist das modrige Gefühl, sich wieder zu entgleiten enthalten. Ich ordne zeitlupenhaft meine Dinge und bekomme unvermittelt Durchfall. Beschließe heute nicht so viel zu Drehen. Bisher habe ich riesige Meter durchgeschleust, ohne mal das Gefühl gehabt zu haben, bei einem Bild anzukommen. Die Befriedigung, die da war, konnte keine Sicherheit ge-ben, daß es nicht doch Ablenkung ist.
In einem Park, der auf einer fehlenden Häuserecke angelegt ist, kann man sich aufhalten, mit gemischtem Publikum, viel Amüsiergerät für Kleinkinder und Grasfeldern zum Anschauen. Eine Eisenbahn fährt ein zweijähriges Kind im Kreis, die Sessions sind lang und bei der zweiten fallen dem klei-nen in seiner orangen, Oma-gestrickten Jacke die Augen zu. Es fallen ihm vehement die Augen zu, aber seine Hände umfassen weiter ganz fest an dem Haltebügel. Als ich wegen eines Fotos dem Vater fragend zunicke, weckt er seinen Sohn und tut das dann jede Runde wieder. Auf dem ande-ren Teil der kurzen Kreises schläft der Kleine immer wieder ein. Auf dem Waggon hinter ihm ist ein kleines Maschinengewehr montiert. In den Kin-derbuchabteilungen, gibt es neben den ersten Worten und Zeichen für Pflanzen, oder Haushaltsartikel immer auch einen Band über die Grund-begriffe der Militärtechnik. Dann gibt A. mir Fanny ans Telefon.
Die Fitnessgeräte, die unter freiem Himmel stehen, werden bis kurz vor die Schweißgrenze benutzt. Eine Mutter lenkt ihren kleinen Sohn auf einem Schildkrötenautoscooter, der die ganze Zeit schießt. Der Kleine schaut durch die Gegend. Eine junge Frau popelt ihrem Geliebten mit einem Schlüssel im Ohr herum, zieht und zerrt und studiert es genau.

In einem Kaufhaus konnte ich zwei Aufnahmen machen, bis es dem Wachpersonal doch noch mulmig wurde. 80 % der Anwesenden waren Angestellte in unterschiedlichen Uniformen, die ihnen unterschiedliche Funktionen zuwiesen. Im wesentlichen dienten zart-milka farbene zum Warten auf Kunden. Dunkelblauschwarze zum Wachen. Auf Initiative der Uniformen ohne Sakko wurde as you like wieder zurückgenommen.


Ein Zimmer ist für die neunzigjährige Großmutter und das andere zum Schlafen für die Eltern und im Etagenbett über ihnen die achtzehnjährige Tochter. Fernsehen auf dem Doppelbett sitzend und ein zusammenge-klappter Tisch an der Wand. Alles sauber und Vorhänge verdecken die Fenster auf einen überdachten wenig beleuchteten Gang. Die Küche hat auch so ein Scheinfenster.
Ich bekomme grünen Tee, und wir unterhalten uns über Englischunterricht. Dann verlasse ich dieser Rache des Architekten.
Der Flur ist finster und der Fahrstuhl hält nicht auf allen Etagen. Ich bin er-staunt, in das erleuchtete Verließ der Fahrstuhlführerin einzutreten. Sie trägt ein Kopftuch, sitzt an einem winzigen Tischschränkchen. Sie hat die Lampe mit einer bunt-metallisch glänzenden Girlande geschmückt und grüßt nicht. Sie drückt die Knöpfe und wenn von außen jemand den Fahr-stuhl ruft, knarrt es wie Kurzschluß.
Von außen läßt der verbreitete Wohnblock nichts von seiner Fensterlosig-keit erkennen.

Die Spieße, die in der südlichen Innenstadt verkauft werden, bevölkern die Gruselgeschichten westlicher Abenteuerbücher. Es beginnt mit Hühner-herzen auf kleinen Mikadostäben, geht mit wachtelartigen Vögeln im Maß-stab nach unten, weiter über Tiere in Spatzengröße, die zu zweit auf einem Stäbchen stecken und kulminiert bei den eleganten Heuschrecken und erschreckendem anderem Käfergetier. Langem und rundlichem. Den Ver-käufern macht es Spaß, insbesondere den Europäern diese Leckereien anzubieten und dabei unbedarft exotisch dreinzuschauen. Dann knackt es zwischen den Zähnen und auf Monoblocks.

Kleine Schulhefte, von denen die Verkäuferinnen nicht einmal mehr wis-sen, wie wenig sie kosten, sind mit abstrakten Graphiken dekoriert. Die erste Klasse sieht ein Haus, das eine Wassermühle ist. Die größte Fläche nehmen Blitz, Donner und Regen in raffinierter Personalunion ein. Es sind Stengel, auf denen vielleicht Blitze vibrieren. Oben schaut eine kreisrunde perforierte Mondsonne darüber hinweg.


Wie kann der Mensch ein so einfaches Tier sein und so idiotisch gleichzei-tig?
Nun sitze ich fröhlich in meinem feuchten Gelaß im Bett, und bin nur fröh-lich, weil der Deutsche, dessen Nummer ich hatte, eine Weile nett und sympathisch mit mir gesprochen hat, ohne auch nur im leisesten ein Un-verständnis dafür zu zeigen, warum ich mich überhaupt melde. Und die Frau aus Shanghai wollte mich sogar vom Flughafen abholen. Als ob sie sich auf den Besuch der Unbekannten freute.
Diesmal gibt es sogar soetwas wie einen Grund zu scheitern. Von Anfang an mußte ich die Reise mit Gewalt durchdrücken. Aber die Einsamkeit ist wie Hunger oder Durst. Sie zeigt, wie labil diese ganze Sache Mensch ist und stirbt mit dem Säugling, der nicht berührt wird. Das demontierte Selbst lebt in seinen Einzelteilen notdürftig fort, und sie arbeiten daran, sich weiter zu zerkleinern. Jeder Versuch, wieder auf die Füße zu kommen, wird als Ablenkungsmanöver weggewischt. Realitätsverlust im doppelten Sinne. Realität als wirkende Umwelt existiert nicht mehr und Realität als Einschät-zung der eigenen Existenz innerhalb der Umwelt, kippt weg. Das alte Rei-semodell hat erstmal ausgedient.
Es hört auf zu regnen, es ist die Nacht vor der gesperrten Fernsehparade mit einer halben Million Mitwirkenden. Es hört also auf zu regnen, und ich bekomme wieder Angst. Dann werde ich zurückgerufen und verstehe nicht viel von dem was passiert, aber auch zu viel. Klartext.


Am letzten Abend nach getaner Arbeit betrat ich ein Restaurant in der Nä-he des Hotels. Als die Kellnerin, So Chi Xong, nicht verstand, daß ich nichts lesen konnte, fragte ich einen weißblonden jungen Mann mit roter Haut, ob er wüßte, was Nudeln mit Gemüse heißt. Er war wunderlich ver-wirrt und antwortete immer auf englisch, obwohl der schwäbische Akzent nur Eingeborenendeutsch sein konnte. Was ich denn wollte? Ja, Nudeln mit Gemüse. Die Kellnerin studierte lange meinen Zettel. Als er der kleinen Kellnerin sagte, daß ich das Klo suchte, faßte sie mich unter und stellte mich zunächst auf der Terrasse ab. Ich schaute auf meine Füße und posi-tionierte die aushilfsweise gekauften, munteren Schweißfußturnschuhe im rechten Winkel zueinander und im rechten Winkel zu den Kanten der scherbengekachelten Terrasse. Dann holte sie mich ab, faßte mich wieder unter und war trotz ihrer Plateauabsätze kleiner als ich, zog mich an sich, und wir tippelten zur öffentlichen Latrine. Ich geriet immer aus dem Takt, denn die Einzelschrittchen waren ebenso schwer zu halten, wie die Dop-pelschritte. Sie fragte mich allerlei, das ich nicht verstand, und an der Latri-ne angekommen, hatten wir gegenseitig erfolglos unsere Namen geübt. Sie wartete innen im beißenden Gestank, gab mir Klopapier und ich hatte den Eindruck, sie interessierte sich für die Unterwäsche, obwohl die öffent-lichen textilen Schichten nichts gutes verhießen. Zurück im Lokal vergaß sie die Freundschaft sogleich, brachte mir die Nudeln, als ob sie mich noch nie gesehen hätte. Ein paar Blätter Spinatartiges in Nudelwasser und sehr viele kaum gesalzene Nudeln. auf Anfrage behauptete ich, es sei das, was ich mir vorgestellt hatte.
Später erklärte mir der Deutsche, daß nicht Nudeln auf meinem Zettel ge-standen hatte, sondern Gesicht.
Er war linkisch verwirrt und hatte einen leicht verformten Kopf. Die gerötete Haut unter den weißblonden Haaren und vor allem sein Blick, der immer irgendwie an den dicken Brillengläsern vorbeiging, unterstrichen das. Er war mit einem Italiener oder Spanier unterwegs, dem er die Worte und die chinesische Kultur buchstabierte, und der ideal als Vorwand diente, in der Nähe der Tochter des Hauses zu sein. Sie half ohne Kellneruniform in Schlaghosen aus. Für chinesische Verhältnisse wirkte sie nordeuropäisch, denn ihr Pullover war fast derb und ihr Auftreten kaum gefaßt, sie machte weder die kleinen Schritte, noch hatte sie den nervösen Ton in der Spra-che. Heute abend machte es ihr Spaß, sich zu bewegen, so nett umwor-ben, ließ sie ihn aber noch im Unklaren, und er verließ sich derweil auf seinen Spano-Italiener.
Alle hier hatten offensichtlich den Feiertag begossen und im Fernsehen lief der immergleiche, bereits historisch gewordene Zusammenschnitt der Pa-rade, der in großen Teilen die Honoratioren abbildete und weniger die tü-cherschwingenden Völkerschaften zeigte, die zu tausenden zusammen erbauliches mit ihren Fahnen schrieben. Die Zuschauertribünen waren gerade groß genug für immer wiederkehrende close-ups aus dem Publi-kum mit Videokamera.


Am nächsten Morgen flattern bei der Beschleunigung die langen, dünnen Flügel gewaltig und die Düsen hängen als dicke Birnen an ihnen herum. Die vierhundert Reisenden sitzen in einem überdimensionalen Blechflug-zeug und haben schon vor dem Start die Maßstäbe verloren, denn sie überqueren schon zum zweiten mal innerhalb einer Woche GOBI. Das Panoramarestaurant sucht man weniger wegen des Essens als vielmehr wegen der Aussicht auf. Eine Route ganz ohne Spuren menschlichen Tuns und Bleibens ist weniger beängstigend als die mit der verwaisten Bahnstrecke. Auf der mongolisch/ sibirischen Seite gibt es sogar eine Stadt, Ulan Batur. Wasserlöcher und versalzene Spuren von Wasserlö-chern häufen sich, aber keine weiteren Ansiedlungen. Dann der Schatten eines stattlichen Sees mit Ortschaft und Infrastruktur, aber alles nur als Abdruck im Sand, Schatten der Normalität. In Gobi bin ich zum letzten Mal mit Hilka gewesen, da haben wir sie begraben. Und plötzlich schneit es. Auf den Spitzen der Berge, die nur durch den Reif als solche erkennbar sind, kondensiert nachts das winzige Wölkchenmaterial und man kann kommen, um sich den Raureif abzuholen. Aber es ist niemand da. Nur diejenigen, die Tag für Tag ihre Restaurants hier rüberschicken wundern sich über die Hyperplastizität, die die verwehte Weiße bildet, wenn sie sich mit dem dunkebraun des Grundes abwechselt. In einem Urstromtal an einer Einmündung gibt es eine agro-industrielle Ansiedlung. Kleine Fluß-läufe winden sich fast maniriert durch die flache Sohle des breiten flachen Tales, und wechseln immer wieder ihre Betten, wobei sie die alten als leere Formen zurücklassen. Vorne auf der Ablage unter dem LCD Bildschirm hantiert ein Baby mit seinen Plastikteilen herum. Im Windschatten begin-nen die Bäume, während das Kind mit einem hypertrophen bunten Ba-bytelefonhörer spricht und langsam in die Unzufriedenheit hinübergleitet. Ist das Sibirien, das Land er braunen Lerchen? Und wieder meandriert es munter und schweigend in einem riesigen Tal mit Retortenstadt an einer Flanke. Halbmond, Tagmond. Machen Sie mal die Blenden runter, wir zeigen jetzt den Movie. Sean Connery mit aufgeklebtem Bart der Wahr-haftigkeit und unter uns streifen sich die Kolchosfelder von Daniel Buren. Der schönste Meander überhaupt, nachtblau glänzend unter dem Himmel ohne Menschen.

Überall tun Menschen das gleiche, sie gehen auf ausgewählten Landstük-ken auf und ab und holen im Herbst kleine Knollenkörnerhalme heraus um immer wieder etwas auf den Herd zu stellen.
Dann von neuem die autistische Streifentour.
Sie haben Berghänge geschabt wie einen Wohngemeinschaftsgouda.

Ein großer blauer Fluß.

Zwei Augen in den Himmel, von der Erdkruste in den Himmel. Zwei tief-blaue Augen. Der Pilot wendet. Hunderttausend Hütchen, ausgezogene Buttercrèmegebirge auf einer puertoricanischen Hochzeitstorte um eine lange Senke oder eliptische Schüssel herum, an deren Ostende ein riesi-ger See sein tiefblaues Zyklopenauge in den Himmel richtet. Der Poesie aber nützt es nichts, auch im Flachland hat der Winter eingesetzt (Altai). Eine löchrige Tischdecke zieht unter uns durch und nach sich die heimi-sche Wolkendecke.
Sibirien ist Berge immergleicher moderater Höhe mit bräunlicher Tundra bewachsen. Aber dann kommt ein Fluß, der wirklich breit ist und viel Was-ser in die einmündenden Täler drückt.