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BANNBRUCH
27.09.95 21:09

Hauptzollamt-Süd. Befragte Herrn W. von der Zollfahndung über die Zigarettenhändler. Meist werden Polen erwischt, die etwa 5000 Stück, also 25 Stangen versteckt haben. Es folgt eine Vernehmung, die den Beamten langweilt, weil stereotyp die Aussage verweigert wird. Das Transportfahrzeug wird beschlagnahmt, wenn der Betrag des Deliktes 20 % des geschätzten Fahrzeugwertes erreicht. Wird das Fahrzeug nicht gleich beschlagnahmt, so kann es in Ermangelung von Geld oder Wertgegenständen, als Sicherungsübernahme fürs Bußgeld doch beschlagnahmt werden. Der Delinquent kann bis zur angesetzten Versteigerung vorbeikommen und das Fahrzeug auslösen. Nach der Versteigerung kann er ohne Einhaltung einer Frist den über das Bußgeld hinaus erzielten Betrag abholen. Versteigerung ist jeden zweiten Donnerstag im Monat. Dort steigern die Aufkäufer die Fahrzeuge zurück. Wird der mittelständige Transporteur nicht erwischt, so verkauft er seine Fracht en bloc an die Vietnamesen. Das sind Asylbewerber oder bereits Abgelehnte. Als einziges Land der Welt verlangt Vietnam auch für seine eigenen Bürger ein Einreisevisum, das nur ausgestellt wird, wenn der Antragsteller angibt, freiwillig einreisen zu wollen. Da dieser Tatbestand nicht erfüllt wird, kann nicht abgeschoben werden. Es ist besser die Bürger im Ausland schicken Geld. Die Deutschen haben nach der Wende die Katze im Sack unterschrieben, oder besser: sie haben nicht aufgepaßt, und damit diese Regelung selbst besiegelt, gegen eine größere Summe soll die teure Unterschrift nun gestrichen werden. Das Zigarettengeld ist Zubrot zur Sozialhilfe oder Versorgung der Daheimgebliebenen. Sie Leben in Heimen. Strafe sind Tagessätze à 10 DM, nur die legalen Einnahmen werden bei der Bemessung der Tagessätze berücksichtigt. Werden irgendwann wieder erwischt. Die Frühwarnsysteme sind schnell, dann werden sie nicht erwischt. Vielleicht denkt der Beamte, laß sie doch machen. Er macht seine Arbeit und die machen, was sie machen, und so bleibt alles in einer gewissen Balance. Er mag aus Frustration oder aus Humanität gelassen sein. Das ist wie mit den Grenzschützern, die die Illegalen den polnischen Zöllnern übergeben. Diese setzen die Einwanderer mangels Geld ein paar Kilometer jenseits der Grenze wieder auf freien Fuß. Man verspricht nicht wieder zu kommen und fast schon mit einer Milde im Gesicht trifft man sich ein paar Tage später wieder. Niemand von uns Paßbesitzern kann sich vorstellen, was das für ein Leben ist. Auch ist es schwer vorzustellen tagtäglich mit diesem Gefälle umzugehen, es sind ja keine Altlinken und Sozialarbeiter beim Grenzschutz, die dort ihre Gesinnung auf Realitätstauglichkeit erproben, sondern eher Leute, die einen sicheren Job gesucht haben, ehestenfalls harmlos. Man muß ein starkes Fundament haben, um nicht zum Arschloch zu werden. Die Macht des Hausmeisters. Es ist schwer, nicht in diese schmale Luke großartiger Machtausübungsmöglichkeiten hineinzufallen.

Also nix da Illegale in illegalen Wohnungen unter der Fuchtel eines Rings, vielleicht schon Ring, aber ansonsten medizinisch versorgt, in geheiztem Zimmer und mit Anstehen am Plastiktablett, dem ganzen Programm mit Zettelausfüllen, nichts tun dürfen und der Verachtung des auf-der-Tasche-liegens. Die verlorenen Blicke der würdelosen Geschäfte und die lila-türkis-malve farbenen Anzüge der sauberen Armen. Junkyblicke, dünne Schnurrbärte und so gut als möglich gebundene Pferdeschwänze, das Loch. Ein merkwürdiges totes Loch, früher sagte man abgestumpft, aber das Wort ist stumpf geworden. Es ist nicht stumpf, irgendwas ist ausgehöhlt. Vielleicht ist die Handhabung deutsch: nicht richtig nein sagen können und dann eine teure Lösung prtaktizieren, die niemandem hilft und allen, die beteiligt sind schadet. Die sogenannte Verlegenheitslösung. Ich erwische mich hier und da bei solchen krankhaften Problembewältigungen.

Ein Container Zigaretten illegal verkauft spart 2 Millionen Abgaben, die der Staat gerne hätte. Erstaunlich viel, schnell verraucht, 50 Mark pro Stange. Der Weg ist verschlungen. Das einfachste ist, wenn die Stange die Republik erst gar nicht verläßt, wenn die Lastwagen die Zigaretten von Rotterdam einführen oder in Hamburg als Exportgut aufladen und sie auf dem Weg verlieren. Zumindest alle Kartons, die nicht in der ersten Reihe stehen. Dabei wird die kleine Plombe geschont, dafür wird vorne hinterm Führerhaus geschnitten und alles kann rausfallen ohne daß es je hatte geschehen müssen. Es ist kein unlösbares Problem das Perlon nach der Aktion wieder zu verschweißen. Daß überhaupt noch eine Zigarette den Umweg über Polen macht, hat wohl mit fehlendem Investitionskapital der Kleinschmuggler zu tun. Das Schmuggeln ist ein eigenwilliger Umgang mit dem Unsichtbaren, eine Form temporärer De-Materialisierung von Waren.

 

Der Herr Wall teilt sich ein Riesenbüro mit jemandem, der nicht da ist. Zweidrittel des Raums sind ungenutzt. Zwei Nachkriegsschreibtische schauen auf einen riesigen gefälschten Perserteppich, der die leere Fläche nur unzureichend füllt. Auf dem Tisch neben hammerschlaglackiertem Tacker eine in Gießharz meisterlich eingegossene Pusteblume, ein verfahrenstechnisches Wunder. Auf der offen stehenden Tür spielt ein Plakat "The Great Wall" im Sonnenuntergang, ein Geschenk der Kollegen, offenbar auf Namen und Charakter des Dienststellenleiters an. Er kann gut und deutlich erklären, so gut, daß ich in Gefahr gerate, seine Geduld überzustrapazieren, und er am Ende des Tages bereut so viel Zeit verschwendet zu haben. N.: Ich habe meine Wohnung in Israel verkauft, die Banken wechseln nicht viel Shekel in DM und teuer, deshalb habe ich meinen Händler beauftragt. Er fuhr durchs ganze Land und sammelte D-Mark, er brachte auch viele alte Scheine, die ich billiger bekam, bei der deutschen Zentralbank konnte ich sie noch eintauschen,... sie öffnet eine Schublade, die Tante hat das genäht: zwei flache Bauchbeutel aus ausrangiertem Bettlaken als Transportmittel. N. hat ihre schwere dunkle Wärme behalten. Ihre Sehnsucht zur Ruhe zu kommen bringt immer wieder das Zusammenbrechen unter der Gleichförmigkeit.

 

07.10.95 19:49 Straftaten gegen strafrechtliche Nebengesetze auf dem Wirtschaftsektor Bannbruch: Steuerstraftat desjenigen, der verbotswidrig ohne Verzollung Gegenstände ein- oder ausführt. Rechtswissenschaftliche Bibliothek. Alles entglitt. Meist habe ich beim Betreten solcher Orte wenigstens eine leise Ahnung davon, welche Systeme dort vertreten sind. Keine Gerichtsprotokolle. Ein sich selbst verkomplizierendes System. Nebenerlasse und Unterparagraphen stopfen offenbar gewordene Lücken. Ein Logiksystem, von dem in Lückenlosigkeit gefordert wird. Da es Leben behandelt, ist das ein chancenloses Unterfangen. Die Diskrepanz ist in der Gerichtsverhandlung institutionalisiert. Dort stehen sich a priori unterschiedliche Positionen gegenüber. Ermessensspielraum. Die Aushilfe am Tresen sagte ratlos hier sei alles wissenschaftlich. Ich wußte nicht, was das in diesem Falle zu bedeuten hat, da ein Regelwerk doch erst errichtet wird. Hatte gedacht Wissenschaft bezöge sich auf ein Gegebenes. Ok, a) das Gegebene ist die Diskrepanz zwischen einem konfliktfreien Idealzustand und den in eigenen Interessen handelnden Menschen. Die Idee des Ideals wird zementiert. Wenn jeder alles täte, was nur irgendwie geht, bräche alles zusammen (A. Kluge "In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod"). Das Funktionieren beinhaltet also eine gewisse Freiwilligkeit der Teilnehmer. b) ist das Gegebene die Geschichte des Systems, sie ist älter als das Staatswesen. Daran wird neu entstandenen Konflikten, neuen Engpässen und neuen Verhaltensweisen entsprechend herumgeflickt. Eine unaufgeräumte Harddisk. Wie kann es sein, daß sie sich nicht für einzelne Prozeßverläufe interessieren? Für die Unmengen Alltag, lebenswichtigen Kleinkram, unberechtigte Kündigung, Überschuldung, zum zehnten Mal mit einem geklauten Autoradio erwischt. Obendrauf kommt ein Promill schwierige Sachen, Nazi-Verbrechen mit klapprigen Greisen abhandeln. Bei Waffenschiebern und bestochenen Politikern besteht die Delinquenz hauptsächlich aus Information.

 

Das Leben projeziert sich ins Regelwerk, und dieses ins Leben. Changieren zwischen Überhandnehmen des Lebens und dem des Regelwerks. Wo es einfach, eindeutig und wenig bedrohlich ist, neigt das Regelwerk zur Übertreibung seiner Realisierung ins Leben hinein, seiner Projektion ins Leben: Die versteigerten "Schmuggelwaren" sind bis auf wenige Ausnahmen Miniquanti und -qualitäten. Wer kann einem Reisenden, der sich vom Verkauf des Inhalts einer Tüte mit Pullovern, Plastikschuhen und zwei Angelrouten einen ausreichenden Gewinn versprach, die Ladung abnehmen? Das schafft Leid und dazu Folgekosten. Der Versteigerer ist schnell. Er liest Nummern und kurze lapidare Beschreibungen: "251, ein Chronometer russischer Bauart, Alarmfunktion defekt für 20 Mark, 22 Mark, ein russischer Chronometer 22 Mark,.." schaut kurz hoch "22 Mark zum ersten" wandert schnell nochmal die Zuhörerschaft ab "zum zweiten..." Knall. Die übertrieben gutgelaunte Dame rechts unter ihm schreibt den rosa Zettel aus. Drei Diener stehen bei ihr an. Alle haben im Auge, wer der Steigerer war. Konzentration. Bei Unklarheiten verständigen sie sich blitzschnell, ohne daß der Ablauf unterbrochen werden müßte. Der zurückkommende Diener stellt sich hinten an. Alle haben gleichviel zu tun. Sie arbeiten zusammen. Ein Programm für Windows oder eine Jacke wird hochgehalten. Der Diener, der das macht gibt acht. Bei den Ikonen ist die Reihenfolge durcheinandergekommen, aber er zeigt richtig. Die winzigen zerschlagenen Vorteile kommen unter den Hammer. Die Steigerer sind den Opfern zollfahnderischer Wachsamkeit ähnlich. Sie haben die Kunststoffgewebetaschen gegen die Plastiktüten der Aldi-Unterbieter T.I.P. und Lidl ist billig ausgetauscht. Sie atmen Schnäppchen und Verbotenes, staatlich organisierte Amoralität: Vermählung des Geregelten mit dem Verbotenen. Nappa- und Sky-Jacken, Blondierte, Glatzen, Frührentner, Händler: Bingohalle. Ein Mittelasiat, ein Urgestein, mit debil dreinschauendem Sohn als Dolmetscher, ersteigert Unmengen "mechanischer Uhren" und unüberboten die Maikäferuhrenanhänger.

Budapest Wanderte auf der Straße herum. Aß schlechtes teures Eis, war übel, abgeschlossen, unentschlossen, verfressen, ungesättigt, schaute dumm rum, vermied gerade noch die Läden anzuschauen. Konditorei Hauer mit KuK Stehcafe hatte zugemacht, wartete auf das nächste Sportgeschäft. Dann konnte man in einen langen Gang in ein Gebäude hineinschauen "30-50%" ich erinnerte mich, irgendwas war hier. Neon, zwei Wärter, einer lacht als ich frage, obs Eintritt kostet, deutet nur darauf, daß ich meine Jacke abzugeben habe, er findet das lustig, wahrscheinlich wundert er sich, daß ich nicht gleich wieder rauskomme, stattdessen sagte mir die Bingohalle zu, eine sanfte narkotisierende Frauenstimme sagt offensichtlich Zahlen an, Mantras, Gymnastikanleitungen, etwas um Menschen zu führen. Neon, ernsthafte konzentrierte Anwesende. Bingo. Hatte unsichtbar durch den Raum schleichen wollen, nur zwei ungünstige Tische an der Wand sind noch frei. Die Frau, ganz dunkel, lacht als ich keine Scheine haben möchte, mit großen schönen Lippen. Wenigstens fällt mir Sör als Ersatz ein. Das ist nicht ihr Ressort. Wenn irgendjemand Bingo sagt, wird meist von vorne angefangen. Sie wollte mir erklären, wie es geht, lachte als sie merkte, daß es weder a) geht noch b) ichs wissen wollte. Die Zahlen kommen auf Video-Kugeln. Wer Bingo sagt kriegt einen Pokal mit einer ebensolchen Kugel drauf. Es gibt auch Essen, zwei bestellen nachdem sie den Pokal auf dem Tisch stehen hatten gefüllte Fischstäbchen mit Erbsen. Neon, Pau-sen sind kürzer, als die Videoclips, die derweil auf den Zahlenkugel-Monitoren gezeigt werden. Alle im Raum außer mir kennen das System. Die die den Pokal aufm Tisch stehn haben kriegen Geld, danach kommt er weg. Das einzige was darauf hinweist, daß es nicht so schwierig zu lernen ist, ist, daß alle im Raum wissen, um was es geht. Verglich die Schmuggelwarenversteigerung mit der Bingohalle ohne je eine gesehen zu haben. Was die Hoffnung auf einen überschaubaren Gewinn, das Publikum und die kollektive Konzentration angeht ist das treffend. Letztere ist auf ein unerklärliches Gemeinsames gerichtet.

Heute morgen der Mann, der das Logo an die richtige Stelle haben wollte. Merkwürdigerweise -und nicht nur weil es die Situation zu überleben galt- war ich froh, daß etwas wie ein Gespräch doch noch zustande kam, mir lag seine verläßliche Steifigkeit, Ferien von der Verfiselei. Das verzweifelte Chaos der Jungs hatte mich schon fertig gemacht. Rs Sätze in der Straßenbahn waren nur insofern kontinuierlich gewesen, als daß keiner an den anderen anknüpfte und keiner das Kommentierte als Gegebenes annehmen konnte. He picks up bites of reality. Zuweilen brilliant. Er pickt die Stücke auf und ist nicht hier, er ist auf einer unbequemen Besuchsreise. Sein schweigsamer Freund Z kommt immer vorbei und berät, offenbar hat er sich allen Eigeninteresses entledigt. B hingegen recyclet seine Zerstreutheit indem er mit allen redet, und der Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Packung Zigaretten bis zu 10 Minuten einräumt. Ich sehe ihn in alle Fallen treten, in die ich auch tappe, wenn die Verzweiflung über mich kommt, dann sacke ich ab und stehe bei Bauhaus rum, versuche einen Verkäufer zu finden um nach etwas zu fragen, das mich nicht interessiert.

19.10.95 01:55 Am dritten Morgen, dem nach der Bingohalle, wachte ich auf und hatte keine Angst vor dem Tag, die Sonne schien wie zuvor. Plötzlich hatte es einen Ansatzpunkt, irgendeine Ahnung von Sinn dieses Aufenthaltes gegeben, B hatte immer angerufen, sagte sie warteten, dabei hatte er bloß gehofft, er wartet. Er kam mit seinen Uhren für Istanbul nicht zurecht. Ich sehe seine Lähmung vor einem wichtigen Ereignis. Vielleicht wird Bartok nicht einmal die Geschichte des Versuchs, vielleicht wird es gar keine Geschichte. Nie stattgefunden haben. Heute gabs einen Durchbruch mit R, haben all diese Dinge durchgesprochen, und waren uns endlich einig. R ist aus der Produktion heraus, hat nur noch virtuelle Projekte und wenn wir Glück haben, singt der Zollchor. Ich bin in diesen Geschichten gefangen und draußen rast eine Stadt herum, die mir fremd ist, eine stinkige Stadt mit mörderischen Autofahrern.

19.10.95 12:56 In einen öffentlichen Raum eintreten: Er stimmt nicht. Vielleicht fühlt es jeder. Die Art, in der er nicht stimmt, ist nicht spezifisch. Meist ist deutlich, was für ein Ort gemeint ist: Ein Café, ein Schnellrestaurant, eine Drogerie. Das Schnellrestaurant ist ein Ort mit genau definierten Funktions- und Dekorationselementen. Die gehen nur zusammen, wenn sie sich in tausendmaliger Ausführung aufeinander abgestimmt haben, wenn die Einzelteile zu Normteilen geworden sind, mit denen man auf unterschiedliche Raumsituationen reagieren kann, Modul, Baukasten, und... Integration. Hier gibts überall die kleine Leiste, die in verdeckender Absicht auf eine Fuge zwischen zwei Preßspanplatten genagelt ist; an ihrem Ende passiert dann nichts, sie ist mit einer groben Säge auf die ungefähre Länge gebracht. Wieder sind die Eingeweide der Materialien, die nicht gerade appetitanregend sind, zu sehen. Resultat ist also die Offenlegung, daß hier etwas verdeckt werden soll. Darunterliegend: die schnöde Realität sozialistisch zusammengebratener Heizungsrohre. Nicht das winzigste Detail bei Tschibo läßt auf die Andersartigkeit der Rückseite schließen. Diesen Schluß kann nur das Wissen um die Notwendigkeit von 12-V Trafos und Unterlagen für die aufgepreßten Laminate Marmor oder Romantica ziehen. Wenn umgebaut wird, liegt der schwer recyclebare Müll im Container. Hier ist das Zeitalter des verdoppelten Ersatzes, es wird nicht den Mitteln gerecht imitiert. Die Messing-Handläufe von Hertie-Gourmet sind das Internegativ, das Zwischenoriginal für die Ländereien der kopierten Kopie. Das starke Bewußtsein der eigenen Identität im Angesicht dieser Stadt und öfter auch gehütete Umgangsformen knallen mit dem krumplig gesägten Resopal zusammen. Es erzeugt ein Unwohlsein wie eine schlechtsitzende Unterhose (allerdings auf dem Kopf). Oft habe ich mir aus der Welt der materiellen Errungenschaften auch nur den Ersatz zugestanden, unter dem Label zu teuer, habe ich mich mit den Nachahmungen dessen eingekleidet, was ich wirklich haben wollte. Der Mann der sich an diesen Tisch setzen will, kämpft mit der aufgehängten Sitzschale. Das Tablett und den Aktenkoffer in den Händen versucht er tatimäßig die Sitzschale davon abzubringen immer wieder zum Tisch zurückzuspringen. Er lacht -leider entschuldigend- und ändert die Technik, schiebt das Tablett auf den Tisch, stellt den Koffer ab. Zieht dann erst mit beiden Händen die Sitzschale vom Tisch ab, setzt sich in den entstehenden Zwischenraum und hält sie dadurch gleichzeitig in der intendierten Position. Platziert den Koffer und beginnt, den Kopf nah über die internationale Polystyrolschale gebeugt eine Kohlroulade zu verzehren. In einem Land, da ein Spüler nicht viel mehr als 100 Mark pro Monat bekommt, darf man die Einweg-Importschalen getrost als modebewußten Luxus bezeichnen. Die Essensausgeberin weiß inzwischen genau, wie schräg nach oben sie eine Portion paniertes Hühnerbein zu halten hat, damit die jenseits liegenden Erbsen mitsamt Soße nicht runterkullern, obwohl sie das Ganze mit einer Hand schafft und es nicht wegknickt. R. behauptete, wenn nichts eigen sei, gäbe es auch keine Realität. Ich fragte, wo wir uns befänden. R. antwortete wem diese Straße gehöre, was sie repräsentiere? Nichts und niemanden. Sie sei ein Konglomerat von Nachahmungen. Ich widersprach seiner Begründung nicht. Aber sie ist da, die Straße. Es ist schwierig sie wahrzunehmen, weil kaum ein Detail mit seiner eigenen Existenz identisch ist. Aber sie ist unleugnbar eine Tatsache. In New York jedenfalls steht ein dicker Mann in seinem kleinen Laden und schneidet jemandem die Haare oder wartet, steht. Es reicht. Nur wenn eine Trockenhaube kaputt geht, hat er ein Problem. Er ist so und solange da, wie er da ist, voll und ganz. Das war die große (angenehme) Überraschung beim ersten Besuch in New York. Vielleicht ist es unsere Bequemlichkeit, die uns so an der Existenz der hiesigen Straße zweifeln läßt, denn der Betrachter stellt die Identität her, bringt die Bilder zusammen.

Vielleicht ist es bloß mein Ordnungsprinzip, das die Wahrnehmung kanalisiert und ermöglicht, aber hier nicht mitkommt. Kennen tue ich nur B, den diese Lücke zerreißt, unfähig sich seiner Wahl bewußt zu werden. ( - Neulich 1 Stunde Polen Kosztrzyn. Ein Bahnhof mit ein paar Häusern und Plattenbauten, drumherum haben sie Bänder aus rosa Betonverbundpflaster ausgerollt. Sonntagabenddämmerung, überall stehen Leute, die irgendwohin schauen. Sibirien. Die Grenze als Schalter - ). Auf dem Weg hierher dann die tschechische Grenze. Freitagnacht zwischen 2h und 3h. Dünne kühle Gebirgsluft, kaum Autos, überall Bäche, Flüsse, Nadelbäume, am Straßenrand braune Monoblockstühle und Prostituierte. Kalte Oberhausener Attraktivität. Ein kilometerlanges Imperium billiger Menschen.

Jetzt ein in sozialistischen Zeiten als Kleinunternehmen eingerichtetes Café, es bietet mit seinen dünnbeinigen roten Polsterstühlen, genügend Integrationsfläche für allerlei rote Cola- und Dreherauf-kleber. Vielleicht rettet dies Passen die Alten vor der Ausrottung. Strichliste, welcher Ort stimmt, welcher nicht. Bingo: Das dünne Eis meiner Projektion. Sprich mit der Dame hinterm Tresen und stelle fest, daß sie in Katalogen blättert und sich auf der Bank nach entsprechenden Krediten erkundigt.

19.10.95 17:45 Sollte ich mich nicht wundern: Nach einer netten Monoblock-PP-Gewebetaschen-Foto-Session auf dem Markt am Orczytér lieferte mich ein junger Mann an einen der Wachschützer, einen rasierten Bullen, aus, der seine Härte genoß. Das einzige was ich erreichte, war, daß der Film nicht gleich aus der Kamera gerissen wurde. Zitterte. In drei Tagen im Büro. Im geschlossenen riesigen säulenbestandenen Bahnhofslokal finstere Kronleuchter und winziges, zusammengeschobenes, nie wieder reanimiertes Mobiliar. Belgrad, Zagreb, Moskau, besser als hiersein.

19.10.95 20:55 Der heutige Tag ist kaum noch zu unterbieten, der bislang letzte Akt sind zerrende Bauchschmerzen, Bullrichsalz, alles an mir hängt, kaum noch Kraft zu sitzen. Das Kino, das ich besuchen wollte spielte nicht die angekündigte (Muriels) Hochzeit, ich hätte mich in einiges reingesetzt, nicht aber in Stalker, mit dem sie mich heute quälen wollten. Bin zwar endlich in dieser Stadt angekommen, kann es kaum ertragen, das Essen klebt nach Stunden immer noch im Magen fest, der Autoverkehr vergiftet alle. Alle Techniken aus dem inneren Stillstand herauszukommen sind erprobt, ich erwarte in großer Arroganz den Durchbruch, der zu tun scheint, was er will. Diese Wohnung der Großmutter ist inzwischen mit einem flächendeckenden Chaos überzogen, die traurigen Grünpflanzen, die die Cousine gießt, sind irgendwo in die Ecken gedrängt, fröhliche Weihnachten mit Katze 1990 auf dem Klo ist auch noch da, alle kaufen Kleinkram zum Essen ein. Es wird immer dasselbe gegessen, sodaß der Rest die Gitterböden des Kühlschranks verkrustet. Ich weiß nicht, warum ich so früh hatte kommen sollen, ich glaube sie hatten von meiner Ankunft Unmögliches erwartet, das sie nun nicht mehr geschehen lassen wollen, jedenfalls sitze ich hier herum, den Kopf vernagelt und alles ist merkwürdig. Wenn irgendwo draußen etwas geht, geht es nur einbißchen anders, als mans haben will. Daß in fast alle Situationen mein Verhältnis Ungarn-Deutschland projeziere, macht mich matt. Tot wie lange nicht. Bohren... ok, der Fotoapparat öffnet sein Auge wieder und starrt vielmals für 30 Sekunden in die schummrig beleuchteten Gegenstände des desasters, alles friedlich, die orangegeblümte Pistolendusche, der der Henkel abgebrochen ist, und R stellt den gesprungenen Teller kurz bevor er sich halbiert wieder in den Hängeschrank, dessen rote Resopaltüren von all dem Teekochen aufgebläht wurden & nach weißem Reis schmecken. Auf daß die Oma sich wundert, warum sie zwei Hälften in die Hand kriegt. (Der Magen hatte unversöhnlich den Ball zurückgespielt und gab bei steigender Stimmung seine Wichtigtuerei wieder auf.)

Die rote geblähte Tür: Eine Sammlung von Gegenständen oder Teilen von Gegenständen anlegen, die sich gegen ihren Zweck durchsetzen: Die mit der Kraft der Feuchtigkeit geborstenen Resopalplatten, das adrig angehobene Betonverbundpflaster am Blücherplatz, die geplatzten Adern im Asphalt vor dem Urbankrankenhaus, die Gräser in den Fugen am NKZ, wie die Mönche der Skelligs den Tang als Erde haben trocknen lassen und in kleine aufgemauerte Gefäße auf der spitzen Insel als Humus legten, so bildet Reifenabrieb und Ruß auf dem Balkon von OBI genug Boden für Grün, für Rattengrün wie C sagt. C, die mir mit ihren Ratten der Luft den letzten Appetit an Stadttieren verdorben hat, soweit sie das nicht wie die Hunde am Hundesee und im Hundewachschutzverein mitsamt den dazugehörigen Menschen selbst besorgten. Dieser Hundeverein mit seinem nagelneuen Fordtransit und Anhänger war offensichtlich der Hauptdarsteller eines deutschen Kubrikfilms, zu dem der Rest der Crew mit Kamera und Licht noch nicht eingetroffen war.

Der Anfang dieser Reise...
Am Abend der Abreise aus Berlin war ich zu einer Veranstaltung von A und vielen Vertrauten aus Lodz mit hängender Zunge zeitgleich mit einem Krankenwagen angekommen, dessen Sirene mich vorher schon mehrfach teilnamslos umrundet hatte. Jetzt verwandelte sie sich plötzlich von einem urbanen Geräusch in Sorge. Er lud einen Künstler ein, der sich bei seiner Performance verbrannt hatte. Die Umarmungen waren besorgt, intensiv. Als die Polizei kam, um die Randbedingungen des Unfalls zu überprüfen, konnte der Obertechniker mit dem ich auch mal aneinander geraten war, kaum die Häme verbergen, die er darüber empfand, daß sich nun die Polizei der Realisierung seiner Prophezeihungen annahm, morgen würde er mit neuem Recht seiner Verhinderungsarbeit einen frischen Anfang geben. Als ich mit jedem einen Moment gehabt hatte, fand ich mein Auto vor dem Justizpalast von ebenjenem kläffenden Fordtransit eingekeilt. Daneben im Natriumdampflicht, das eigentlich für die Rustikaquadern und die Fahne am im Umbau begriffenen Palast gedacht war, hielt sich eine Gruppe SS-Leute auf, auch Frauen, die wußten, daß niemand sie vom Fleck rücken würde. Als ich dabei war mein Auto zoll- und diebstahlsgerecht umzupacken, brach ein Hurricane aus hunderten bellenden Bullterrierschnauzen über den Platz. Das Öffnen der Hintertür des Wagens machte die Degeneraten rasend vor Sehnsucht aus ihren spritzgegossenen, übereinandergestapelten Flightcases herauszukommen. Die Führer hatten Probleme sie an die Leine zu kriegen und nicht von ihnen ausgeführt zu werden. Sie umschritten, die Kampfmaschinen 50 cm kurzen angeleint, in zwei Meter Abstand voneinander ein Karree mit Bäumen und krümeligem Grünzeug. Das war der Anfang der Reise,...

 

"Nur im Blick auf das Durcheinander von Ordnung und Unordnung gelingt es, sagen die Gestaltpsychologen, die Unordnung von der Ordnung nicht auszugrenzen, sondern durch die Umstrukturierung des ganzen Wahrnehmungsfeldes einzubeziehen. Es vereinfacht sich, weil die Störungen aufgelöst sind. Zugleich erhöht sich seine innere Komlexität, weil die aufgelösten Störungen als Strukturen in die nun kompliziertere Ordnung integriert werden. Ordnung erscheint so als die Transparenz von Komplexität und Einfachheit." S. 8/9 "Das Ornament verhüllt und strukturiert zugleich. Es verbirgt die Bruch- und Nahtstelle eines Kleides oder Hauses und weist gerade so schonend auf sie hin. Den Ursprung des Ornaments sah Semper in der Naht." S. 11 Hannes Böhringer, Begriffsfelder, Berlin, 1985